PunktKomma ist ein Literarisch-politisch-philosophischer Blog. hereinspaziert!

Ich habe lange gezögert, ob ich all diese Texte, die hier wohnen, für ein Buch aufbewahren und sie erst dann als Tinte auf Papier in die Welt schicken sollte. Ich merkte aber nach einem Dreivierteljahr Arbeit, dass das Schreiben für mich kein Akt des Perfektionsanstrebens ist, sondern ein ständiges Weiterspinnen von Ideen, ein Nachdenken im Dialog. So wie es Sprechdenken gibt, so sehe ich das öffentliche Schreiben als Sprechschreiben; ein Handeln im Sinne Hannah Arendts, ein Rausgehen und ein ungeplantes In-Den-Dialog treten, ein Existieren in der Interaktion mit anderen Menschen; vielleicht ab jetzt auch mit dir?

Warum Punktkomma? Weil ein Gedanke den nächsten gebiert. Weil er für sich stehen bleiben, aber auch weitergeführt werden kann. Weil mehr Dinge eine Aufzählung bilden können, als uns lieb wäre.

 

Hier wird es keine klare Trennung zwischen Persönlichem und Theoretischem geben; manche Texte werden philosophisch sein; andere essayistisch oder autobiografisch; manche politisch, aus der oppositionell-russischen Perspektive; viele tagesaktuell.

 

Ich weiß noch nicht, was bleibt und was vergeht; ich möchte einfach schreiben. Kommst du mit?


Diese Geschichten sind alle wahr. So wahr, wie unsere Erinnerungen. Mit einer Prise Wunschdenken, zwei Löffeln Verdrängung, ein paar Retuschen durch die selektive Wahrnehmung und einem Blickwinkelspagat zwischen Nächstenliebe und Narzissmus. Hier und da durch die Erinnerungslücken radiert und frei nach Form nachgezeichnet. Und im Sinne der Kunstfreiheit stellenweise etwas überzogen. So wie du es auch aus den Tischgesprächen kennst.

Was möchtest du heute lesen?

Unentschlossen?

(oder sowas in der Art, was da auch Netflix immer schreibt, damit du nicht abspringst)

Ooooder lies einfach drauf los:

Gedankenbahnen

Das größte Problem unseres Denkens ist, dass wir unsere Freiheit heute an Orten ausleben, die längst vordefiniert sind. Großkonzerne und Tech-Giganten haben Plattformen geschaffen, auf denen wir uns scheinbar individuell entfalten können; wir gestalten unsere Social-Media-Profile, vernetzen uns, posten, liken, kommentieren. Es fühlt sich nach Wahl an. Nach Handlungsspielraum. Nach Selbstbestimmung.

 

Doch wer tiefer hinsieht, wird feststellen: Noch nie waren wir so gelenkt wie heute, zumindest nicht in der Zeit vor dem Internet. Die Wege, auf denen sich unsere Kommunikation, unser Denken, unser gesellschaftliches Miteinander bewegen, sind erstaunlich stark vorgezeichnet. Die Plattformen spucken uns Formulare mit hübscher Mehrfachauswahl heraus und wir flicken daraus freudig unsere Individualität zusammen. Und wir merken es kaum, was wir da so tun. Denn alle machen mit. Und natürlich machen alle mit, weil dort eben alle sind.

 

Man kann sich dem entziehen. Ich habe meine Profile gelöscht, alle, die letzten davon ganz vorbildlich am ersten-ersten. Erst dachte ich: Es ist nur eine Illusion, dass man etwas verpasst. Ein halbes Jahr ist vergangen.


Und ich muss sagen... 


Man verpasst nichts. Zumindest nichts Wesentliches. Was man gewinnt, ist Zeit. Klarheit. Ruhe. Man gewinnt den eigenen Gedankenraum zurück. 

 

Im beruflichen Kontext ist der Verzicht nicht ganz so einfach. Wer mit weniger Vitamin B auf die Welt kam, muss sich irgendwo andocken. Und gerade seit Corona, mit dem Siegeszug von Homeoffice und digitalen Events, ist fast alles ins Netz gewandert.


Lebt man in einer kleineren Stadt, wird diese Abhängigkeit von der Digitalität noch spürbarer. Vernetzung passiert heute online. Die Möglichkeiten jenseits davon sind rar.

 

Und auf der einen Seite ist das wunderbar. Mein Mann und ich arbeiten beide mit den Unternehmen zusammen, die gar nicht in unserer Stadt sitzen. Diese Art von Arbeit funktioniert gut, wenn einmal ein echter Kontakt hergestellt ist. Das Problem liegt darin, dass die digitalen Wege, auf denen unsere Kommunikation sich bewegt, nicht neutral sind. Sie sind reguliert. Vorstrukturiert. Und diese Struktur prägt nicht nur den Zugang, sondern auch das Denken, das Verhalten, die Erwartungen.

 

Ich muss dann oft an Hannah Arendt denken. An ihre Unterscheidung zwischen Arbeiten, Herstellen – und dem eigentlichen Handeln.
Handeln hieß für sie: in echte Beziehung mit anderen Menschen treten, initiativ werden, unplanbare Dinge tun, und damit etwas echtes, politisches zum gemeinsamen Raum beitragen. Das, was wir heute auf Social Media tun, ist aber kein Handeln. Es ist Herstellen. Und eventuell nicht mal das. Herstellen wäre laut Arendt (sehr vereinfacht gesagt) Dinge erschaffen, die uns überdauern. Unsere Social Media Profile werden uns nur überdauern können, wenn es die Plattformen zulassen. 


Wir stellen also unser Profil her, unser ideales Fremdbild. Wir stecken da Zeit rein, es muss ja, vor allem, wenn beruflich was auf dem Spiel steht. Das Vernetzen und das Storytelling ist überall und wird zu Pflicht. Leute planen sich täglich Zeiten ein, an denen sie auf LinkedIn oder sonst wo netzwerken. Arendt würde sogar sagen, dass es ab diesem Punkt Arbeit ist, weil es nicht echt und auch vergänglich ist und eben nicht währt und schnell wieder verfliegt, wenn man damit aufhört. (auch wenn Internet nichts vergisst, das wäre aber ein anderes Faß, das schließen wir mal schnell.) 


Und doch glauben wir kollektiv daran, dass das, was auf Social Media passiert, ein Austausch sei. Diese Illusion ist erstaunlich mächtig. Denn wenn die Orte, an denen wir uns ständig Dinge mitteilen, bereits von Konzernen definiert und gelenkt sind, was heißt es dann für unsere Freiheit? Für unsere Möglichkeit, wirklich zu handeln?

 

Und als wäre das nicht genug: Fast 50 % des weltweiten Internetverkehrs stammen laut Studien von Bots. Meta hat sogar eigene KI-Profile hochgeladen, die echte Personen imitierten. Die Dead Internet Theory wirkt damit gar nicht mehr so aluhutmäßig. 

 

Lass dir das auf der Zunge zergehen: Was wir für einen Dialog halten, ist oft nur Simulation. Über dich wird eine durch Lobbyarbeit feinjustierte und durch Algorithmen perfekt auf dich abgestimmte politische Agenda ergossen. Oder dir wird suggeriert, dass du dringend ein Produkt brauchst. Oder. Oder. Oder.

 

 

Vielleicht brauchen wir neue Orte. Oder den Mut, alte Räume wiederzubeleben.


Vielleicht beginnt politisches Handeln heute mit einem Austritt. Mit dem Loslassen der Verbundenheitsillusion.

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Prio 1

Wir sind seit elf Stunden unterwegs. Nach einem langen Flug zurück aus dem tollen Urlaub stehen wir nun in einer überfüllten Hamburger S-Bahn um von dort aus nach Regensburg zu gelangen, weil längere Flugstrecken billiger sind, was absurd ist und ein Thema an sich. 

 

Die S-Bahn also. 24 Minuten im überfüllten Zug. Meine siebenjährige Tochter tanzt eine Kinderversion des Pole-Dance an dem mittig platzierten Handhalter. Das hat sie im Fernsehen gesehen. Es lief plötzlich eine RTL-Aufnahme auf Youtube, wo ein zu Barbie stilisiertes kleines Mädchen sich bei einem Supertalent-Wettbewerb anmutig um die Stange drehte. Ich kam zu spät. So tanzt sie nun also. Und ich bewege mich irgendwo zwischen sie-warnen-den-anderen-Mitfahrenden-nicht-auf-die-Füße-zu-steigen, und so zu tun, als wäre es nicht mein Kind.

 

Schließlich streifen meine Augen über eine Stationenübersicht. Als ich versuche, im Kopf auszurechnen, wie lange wir noch fahren müssen, fällt mir auf, dass die nächsten 4 Stationen auf unserer Strecke als nicht rollstuhlgerecht markiert sind. Ich glaube meinen Augen nicht. 4 fucking Stationen. Wie soll das gehen? Ist es echt euer ernst, die Menschen, die dazwischen leben oder arbeiten, von so einer langen S-Bahn-Strecke auszuschließen? Oder sollen sie sich da gar nicht erst hintrauen? Chancengleichheit mit großem CHHH.

 

Ich blicke zu drei schweren Koffern und freue mich trotz dieses inneren Kopfschüttelns, dass Hamburger Hauptbahnhof einen Aufzug hat.

 

Nachdem ich schonmal bei meiner Rückreise von dem ersten großen Theaterregieengagement, der mit der vorzeitigen Kündigung endete (oder auf gut Deutsch: ich wurde rausgeschmissen), völlig fertig mit vier kurzen Umstiegen über acht Stunden nach Hause fuhr mit der Deutschen Bahn, und es bei einem Fünf-Minuten-Umstieg, aus dem dann drei Minuten wurden wegen der (Überraschung!) Zugverspätung, ohne Aufzug vor einer riesigen Treppe stand mit zwei Koffern, in denen sechs Wochen Arbeitsleben drin waren, und sie nacheinander die Treppe runterschleppen musste. Nun ja, beim zweiten Koffer krachte es. Ich bin dem Koffer hinterher die Treppe runtergeflogen und habe mir die Bänderzerrung an einem Fuß zugezogen. Der schlimmste Tag meines Lebens (wie es mir damals schien) wurde nun folgerichtig besiegelt. Vielleicht wollte mich aber mein Schicksal damals absichtlich ans Sofa fesseln, damit ich nicht wieder von meinen Problemen davonjogge. Hat nicht funktioniert, ich bin trotzdem überall rumgehumpelt und erst drei Jahre später aufgewacht und dem Theater den Rücken gekehrt.

 

Zurück zu den Stationen ohne Aufzug. Wir leben schon in einer verkehrten Welt irgendwie. Wir führen Diskussionen in die Richtung „Jeder Körper ist schön“ und haben in einer Großstadt vier Stationen nebeneinander ohne Aufzug. Nicht, dass er gerade nicht funktioniert. Es gibt ihn da gar nicht. Ist es nicht die höchste Alarmstufe und das erste, was man überhaupt tun müsste, wenn man über Inklusion spricht? Junge verzweifelte Eltern mit Kinderwägen (been there – seen that) würden übrigens auch noch davon profitieren, und mehr am gesellschaftlichen Leben teilhaben können.

 

Ich bin keine Politikerin, und möchte es vorläufig auch nicht werden. Aber es gibt da so ein Ding, und es heißt Fokus. Das kenne ich privat viel zu gut. Ich würde auch am liebsten jeden Tag an einem Buch schreiben, zwei Stunden Sport machen, 30 Minuten meditieren, zuhause lecker kochen, meine Tochter abwechelungsreich bespaßen, und dazu auch noch zum gleichen Teil mit meinem mehr-als-Brotjob zu unserem Familieneinkommen beitragen. Ach, und mein E-Piano schaut mich auch seit über zehn Jahren täglich vorwurfsvoll an. Ich würde so gerne all das tun, aber es geht nicht. Nicht, weil die Zeit nicht reichen würde. Irgednwann ist einfach geistig Schluss. Die Entscheidungs- und Motivationskraft werden aufgebraucht. Also muss ich schauen, dass mein Kind, mein Schreiben und die Arbeit Prio haben (was eh schon viel ist), und der Rest kommt ergänzend dazu, oder mal eben gar nicht. Trotzdem klappt es oft genug, dass ich mein Alltag abwechslungsreich gestalten kann. 

 

Dasselbe hier. Unser gesellschaftlicher Fokus ist begrenzt. Wir können nicht zig Diskussionen führen – ob es nun Body Positivity oder Body Neutrality werden soll. Wir sollen verdammt nochmal nach Hamburg und die Aufzüge bauen, wenn wir die Inklusion ernst meinen. Und nicht nur nach Hamburg, natürlich. Der muss nur gerade hinhalten.

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And then shadows were thinking

Is this a real material world we are looking at, all together? These particles combined in a dance of matter, filling, flowing, growing. I sometimes think we live in a kind of matrix, but not one imposed on us; rather, it is self-made. It's a flow of consciousness which awakens the material world. Imagine our brain being a mere radio of cosmic consciousness. We are a kind of  receivers of a collective consciousness. Our radio grows with the time, it improves, it stabilizes certain connections and lets go of others. This way, we tune into a certain channel which hasn't existed before we tuned in. So we kind of decide what we receive. We are not bio-robots; we are creatures with a free will that we can impose on the stream of consciousness we receive from the cosmos.

Our brains, as we can see from patients with brain injuries, are extremely capable of compensating for missing or destroyed parts. Neuroplasticity is already a well-known theory, which makes the idea of receiving consciousness a possibility beyond science fiction novels. If we agree that our brain is a radio of cosmic energy, then the next question is: what should this flow of consciousness contain? How is the information structured so that it can flow into each language beyond semantic and cultural rules? It should also be the same energy we share with plants and animals — unified for all life, as universal information structured equally for all living cells and organisms.

 

Which language should it speak? We could walk along with C. G. Jung and his symbolism or forms of archetypical collective consciousness containing ideas that appear on different edges of the world, in different countries, by different people, without them ever talking or meeting each other. These symbols, however, possess a kind of emotional energy that makes them strong, empowered emotional entities.

 

If we now take Kant's critique of pure rationalism on the other hand and walk together with Kant and Jung on both hands, we may come one step further. Let's state that this energy coming from cosmic consciousness is formed in a fluid symbolic structure. Then, as Kant states, we need to have categories such as space and time and (argueably) twelve other categories such as entity, causality, etc., to be able to perceive the world the way we do. Kant's strength lies in this point of view, in merging the empirical and the idealist. He asks: how should human perception be structured for us to perceive this world as we do? He is not looking for a biological structure in our body, nor for a physicality of the world, but for the metaphysical structure itself that makes perception possible. We'll never see things as they are, only as we can see them.

 

So, adding Kant's perspective to Jung's, we get the following picture: For us to perceive this world, which, as we suggest, could be a reception and reproduction of cosmic energy circulating within and around us, we should be generally tuned, a priori, into a kind of symbolic perception which doesn't necessarily reside within us or our brains. Otherwise, we wouldn't have the same symbols and superstitions all over the world.

 

Maybe if we could dig deeper, we could find ways to connect even more with the world around us. If we all are tuned into this cosmic symbolic way, but instead we go into technicizing without awareness, without holding our breath and looking into the starry sky but instead looking at our smartphones, then we are poorer in perceiving, alienated from the outer world. We could instead integrate the process of technicization appearing around us and act with cautiousness and awareness toward life, people, and other beings surrounding us.

 

Maybe if we stay still, hold our breath for a second, and look at our shadow, our contour, our frame, our silhouette emerging from our material body, the shadow of an idea, as Plato’s cave metaphor would say, maybe then we see the universal, the symbolic, transcending genders, bodies, everything, uniting us all as living creatures walking under the same sun. We could take it as a metaphor of the all-uniting cosmic power. If it is a real world we are looking at, and as we are the ones defining reality, the answer can only be affirmative.

 

Yes, we were looking at the same moon, and the moon was staring back at us. It was looking back at us without distinguishing between the matter within each of us. And as we gazed back, reflecting thoughts and common energy, we realized there was no hole in the matrix. There was no matrix. No matrix at all. There was one big onething manifesting itself in every particle, every cell, every living being.

 

We reflected it back, and we were in no hurry. We just stood there, unaware of each other, but at the same moment, synchronistically, we knew we were there. This we emerged within us, and this completely new feeling was now here to stay. As we passed each other on the street crossing, this feeling intensified. But we didn’t look back. We just knew: we are all one.

 

 

And from that day on, each time we saw our shadows in the moonlight or sunlight, we looked at the sky and saw one another, saw existence reflecting in the light. We thanked our shadows for being friendly reminders of the great cosmic interconnectedness, of being one, overthrowing borders, countries, cities. A cosmic consciousness in our shadow, in our silhouette, in our ability to feel, to be, to share, to gaze at the sky, and to lose ourselves in crazy concepts.

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5 a.m.

Ich schlage die Augen auf und bin direkt hellwach. Mein Hirn läuft in Sekundenschnelle hoch wie ein Synapsenferrari. Viertel vor Fünf. Ich ziehe das an, was vorbereitet auf dem Stuhl liegt, schnappe die vorgepackte Tasche, auf den Zehenspitzen ins Bad, Kaffeekapsel läuft fleißig, alles dabei, alles bereit.

 

Ich werfe noch einen Blick zurück. Meine Tochter schläft weiter in meinen Mann eingekuschelt.

Ziehe die Wohnungstür leise hinter mir zu. Geschafft. Ich stürme los.

 

5 a.m.

 

Heute früh bin ich zu Donau gekommen, um zu schreiben. Draußen ist's schon hell und laut Google 9 Grad. Ich habe nun bis 7 Uhr Zeit, dann kehre ich zurück, wecke meine beiden und backe Pfannkuchen mit nur einem übriggebliebenen Ei. Werde wohl etwas strecken müssen.

 

Als ich rausgehe in das bereits helle Morgen, fliege ich 15 Jahre zurück. Es piepst. 5 a.m. Meine grünleuchtende hässliche Plastikuhr neben dem Bett. Meinen Eltern ist's egal, sie kamen gestern spät nach Hause und wissen nicht, wann ich in der Früh losgehe. Die Frühmorgenzeit ist irgendwie noch aufregender als spätabends. So ein erlaubtes Abenteuer. 

 

Meine damals beste Freundin und ich gehen gleichzeitig raus. 5 a.m. Sie winkt mir schon aus einem rotzigen Innenhof zwei Straßen weiter. Ich grinse. Sankt-Petersburg erwacht. Erwacht mit uns beiden.

 

Es ist ein Sonntag. Wir laufen zum Fluss. Es ist kühl und das Licht strahlt warm. Ich habe gerade ein Körperwärmegefühl wie damals. Ich wiege sogar jetzt gleich wie damals nach meinen Abnehm- und Wiederzunehmtorturen. Mir ist jedenfalls ähnlich angenehm kalt. 

 

Wieviel könnte man erleben wenn man jeden Tag knapp 2 Stunden für sich hätte, bevor der Tag richtig losgeht. Wenn man statt tief in die Nacht ins Handy zu glotzen, einfach mal schlafen geht, gleichzeitig mit den Kindern, und dann vor der ganzen Familie, ja, vor der ganzen Stadt aufwacht.

 

Ich treffe nur eine Person als ich zum Fluss laufe. Eine Junge Frau mit konzentriertem Blick vor die Füße läuft an mir vorbei und hinterlässt eine süßliche Parfümwolke. 

 

5 a. m. 

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Zwei Musikschulen

Katja und ich hatten so gut wie nichts Gemeinsames bis auf den Namen und die überambitionierten Eltern, die selber nie Musik machten, uns aber in den Ferien zum Musik üben schickten. 

 

Katjas Eltern ließen ihren Klavierfingern nicht mal zwei Wochen Pause. Meine Eltern waren da entspannter, erst in den dreimonatigen Sommerferien ging‘s bei der Oma im Dorf in eine Musikschule.

 

So lernte ich zwei Musikschulen kennen, die mich beide über die Ferien beheimatet haben. 

 

Die eine "Musikschule" befand sich in Zermatter Grundschule, mitten in den Schweizer Bergen, wo wir jährlich Ski fuhren. Das war eigentlich nur das Musikzimmer mit einem schönen Holzklavier im zweiten Stock. Katja und ich gingen abends immer hin. Die Nacht legte sich über das kleine nette Zermatt und wir liefen die kleinen Straßen hoch bis zu hohen Glasstüren der Schule. Uns (beziehungsweise Katjas Eltern) wurde vertrauensvoll der Schlüssel von der Grundschule überlassen. Wir gingen also abends alleine hin und kämpften nach dem für Katja obligatorischen Musizieren mit kindlicher Neugierde weitere Räume als das erlaubte Klavierraum zu erkunden. Dennoch war für mich, selbst während meiner bereits anrollenden äußerst rebellischen Teeniezeit, die Dankbarkeit über dieses Vertrauen - zwei Kinder alleine in der riesigen hübsch ausgestatteten Schule mit Kinderspuren überall (Plakaten, Zeichnungen, halbvollen Garderoben, einem nett eingerichteten Minimuseum der Kinderkunst hinter der Glassscheibe im Erdgeschoss) - so groß, dass wir nach dem Üben tagtäglich fleißig die Türe zusperrten und in der Sternennacht wieder in unser Apartment liefen. Diese abendliche Schule im gedeckten Licht der Schrittmelder war irgendwie andächtig, wie eine Art Kindertempel, wo diese lebendige Kinderenergie auch spätabends noch in den Gängen nachhallte und uns ansteckte.

 

Die zweite "Musikschule", die auch keine war, lag ebenfalls in einer Grundschule im südrussischen Dorf Lasarevskoje nahe Sotschi, wo mein Vater herkommt und wo ich bei seiner Mama, meiner Oma, bis ich zehn wurde, jeden Sommer fast zwei Monate verbrachte. Dort grüßte uns in der Früh, bei der bereits warmen Sonne, eine bittersüß lächelnde Oma mit kurzem grau-weißen Haarschnitt ähnlich einer Wolke, die gute Seele des Hauses. Im Gärtchen nebenan krähten die Hähne. Diese Schule ist in meiner Erinnerung leuchtend hell geblieben. Ich spielte im kleinen, unfassbar hellen und warmen Raum. Überall hingen Kinderbilder und an die Kinder gerichteten Bilder, von denen es einerseits stark sowjetisch wehte, andererseits waren die meisten so universell menschlich, dass sie auch mich abholten. Ich erinnere mich an keines davon, aber an das Gefühl, dass ich von diesen zu mir bunt sprechenden, leuchtenden Wänden abgeholt werde.

 

So unterschiedlich wie Katja und ich waren, waren also auch diese Schulen. Und doch war da eines, was den beiden Schulen gemeinsam war. Was vielleicht auch Katja und mir gemeinsam war. Was auch den Menschen in diesen zwei voneinander weit geografisch und kulturell entlegenen Orten gemeinsam war, auch wenn von diesen Menschen sich die allermeisten nie im Leben begegnen würden. Die Spuren der Kinder. Und diese leuchtende Energie, die sich in die Klaviermusik einflocht. 

 

Diese Spuren der beiden Schulen sitzen noch tief in mir drin. Die rufen mich zurück. Ich muss mal zurück. Auch wenn Sotschi und damit ein großer Stück meiner Kinderseele mir noch mindestens so lange versperrt bleiben wird, bis dort im Staatsfernsehen Der Schwanensee läuft.

 

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Gemeinsamer Nenner

Wenn zwei politische Lager unversöhnlich auseinanderdriften.

Wenn Religionsverschiedenheiten in Kriegen münden.

 

Wenn's unwiderruflich brennt, suchen wir alle plötzlich nach ihm. Nach dem gemeinsamen Nenner.

 

Die Politiker sind sich doch ähnlich, oder nicht? Zumindest sind sie alle als Berufspolitiker im gleichen Maße realitätsfremd, und die meisten gehen von der Demokratie aus, welche sie nur unterschiedlich auslegen. Oder nicht? Und die Religionen, die sich untereinander ähnlicher sind in ihrer Suche nach dem Sinn, als in Abgrenzung zu den militanten aber in der Regel zahnlosen Ateisten, die ihr Nicht-Glaube übermütig als absolutes Wissen darstellen. Meinen spirituelle Praktiken, bei all ihrer Vielfalt, im Kern doch oft dasselbe, oder nicht?

 

Ist es denn nicht so?

 

Nun ja, wenn's sich für alle Beteiligten noch nicht danach anfüllt, zwingen wir sie doch einfach in eine Bruchrechnung und kürzen so lange Details und Einzelheiten heraus, bis sich die Zahl sauber dividieren lässt.

 

Selbst im eigenen Leben versuchen wir ständig, einen gemeinsamen Nenner zu finden.

Einen roten Faden durch Brüche und Widersprüche in unserer Persönlichkeit und unseren Taten zu ziehen.
Oft misslingt es.

Eigentlich misslingt es immer.

Eigentlich misslingt es überall.

 

Dieses Gemeinsame, das alles durchdringt und teilbar macht, entzieht sich, obwohl wir es doch grad eben um die Ecke kommen sahen. 

 

In der Mathematik ist es einfacher: Eins ist der einzige Teiler, den alle natürlichen Zahlen gemeinsam haben. Zwei ist es schon nicht mehr. Und drei erst recht nicht. Je größer der Teiler, desto weniger Zahlen lassen sich durch ihn teilen. Vielleicht ist genau das das Dilemma der Verständigung: Je allgemeiner ein Nenner, desto banaler wird er. Je spezieller, desto spaltender.

 

Man legt Seidenschnipsel übereinander, fein und schimmernd, aber flüchtig und extremst widerspenstig, in der Hoffnung, dass sie sich durch ein gemeinsames Muster ordnen lassen. Aber je mehr Schnipsel, je mehr Stimmen, desto schwieriger wird es.


Der gemeinsame Nenner ist ein Phantom. Und doch winkt er uns immer wieder mal hämisch zu, bevor er um die Ecke verschwindet. Und gerade darum lohnt sich die Suche. Eines Tages werden wir ihn schnappen, wenn auch nur für den Bruchteil einer Sekunde, bevor er uns wieder entweicht.

 

 

 

 

Meine (vorläufige) Suche nach dem gemeinsamen Nenner, meine letzte Hausarbeit in Philosophie "Die Welt im Kästchenraster: Gefährdet die Auskategorisierung der Welt die Möglichkeit der Konsensfindung in heutigen Diskursen?" habe ich nun hier (zusammen mit ein paar anderen Veröffentlichungen) hochgeladen. 

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C. G. Jung #2

In unseren Träumen kommen oft ganz alltägliche Dinge vor – Straßen, Tiere, Menschen – die uns aber im Traum plötzlich bedrohlich oder seltsam erscheinen. Dieses Phänomen beschreibt C. G. Jung als ein typisches Merkmal des Unbewussten, das mit symbolischer Verdichtung arbeitet, denn diese Dinge wirken deshalb anders, als im realen Leben, weil sie mit mehreren Bedeutungen geladen sind.

 

Träume können auch metaphorisch sein. Jung erzählt etwa von einem Traum, in dem ihm ein Mann, den er im wachen Leben nicht mochte, buchstäblich auf den Rücken stieg. Die Redewendung „jemandem auf den Buckel steigen“ wurde dabei wortwörtlich ins Bild gesetzt. Unser Unbewusstes spielt mit Sprache und Symbolen, teils auch mit solchen, die uns im bewussten Leben gar nicht mehr geläufig sind. Hierin sehen wir noch Jungs Nähe zu Freud, der ebenfalls die Mechanismen der Verdichtung (neben Verschiebung und noch ein paar anderen) im Traum beschrieben hatte.

 

Anders als Freud aber, der in jedem Traum eine Wunscherfüllung sah (oft eines verdrängten, und noch öfter eines sexuellen Wunsches aus der Kindheit), beschrieb Jung Traüme als kompensatorisch. In anderen Worten: Sie stellen eine Art Gegengewicht zum bewussten Leben dar. Dieser Unterschied scheint zunächst nur begrifflich, hat aber weitreichende Konsequenzen. Während Freud Träume als Ausdruck des durch innere Zensur gejagten Unbewussten interpretiert, sieht Jung in ihnen eine Rückbindung an eine tiefere, symbolisch-archaische Psyche, eine Psyche, die in unserer modernen, technisierten Welt immer mehr wegrationalisiert wird.

 

Jung sagt auch, dass viele Träume warnen, manchmal sehr direkt, manchmal eben verschlüsselt. Sie machen unsere sogenannte bewusste Vernunft, die an den selben Stellen gegen die Wand rennt, darauf aufmerksam, dass eine Wand da ist.

 

Jung kritisiert in seinen Schriften, und das schon in den 1950er-Jahren (!) die zunehmende Rationalisierung unserer Welt. Er warnt davor, dass durch die permanente Reizüberflutung – Werbung, politische Propaganda, äußere Ideale – eine psychische Dissoziation entstehen kann. Der moderne Mensch versucht, „vernünftig“ zu sein, dabei verliert er den Zugang zu jenen magischen, intuitiven Strukturen, die in sogenannten primitiven Kulturen noch selbstverständlich sind. Wir glauben, viel weiter zu sein. Aber wir sind es nicht. Wir haben die Dinge nur woandershin verlagert, oft in halbbewusste Glaubenssätze.

 

Wir blicken ungläubig auf Kulturen, in denen Opfer dargebracht wurden, es erscheint uns gewalttätig, und das ist es auch. Aber was, wenn hinter diesen Ritualen die Vorstellung steckt, dass das Gute nur durch ein Opfer möglich ist? Diese Idee, dass etwas nicht zu lange gut gehen kann, begegnet uns auch heute noch, in Gesprächen, in Sprichwörtern, in unserer Haltung zum Glück. Vielleicht handelt es sich um einen archetypischen Glaubenssatz, dass das Gleichgewicht nur durch einen Ausgleich auf der Gut-Schlecht-Waage wiederhergestellt werden kann. Es läuft zu gut. Man muss ein Opfer bringen. Heute heißt dieses Opfer Selbstsabotage und/oder Prokrastination.

 

Wo waren wir? Ich war kurz eine rauchen nach lauter anstrengender Arbeit. Also, die Archetypen.

 

Ein zentraler Gedanke bei Jung ist der der Archetypen, Urbilder, die tief in unserer Psyche verwurzelt sind. Er vergleicht sie mit biologischen Spuren der Entwicklung: Wie Embryonen menschlicher Föten eine Zeit lang Ähnlichkeit mit den tierischen Embryos haben, so trägt auch unsere Psyche Relikte früherer Entwicklungsphasen in sich. Deshalb berühren uns Geschichten vom Helden, der ins Unbekannte aufbricht, so tief.

 

Diese Muster sind nicht angelernt. Wir tun sie zuerst, lange bevor wir sie intellektuell begreifen. „Am Anfang war die Tat“, sagt Jung, im Rückgriff auf Goethe. Erst später folgt die Sprache und die ausgeklügte Interpretation zur Selbstberuhigung, warum man denn so und nicht anders gehandelt hat (ist übrigens mittlerweile sogar wissenschaftlich nachgewiesen). 

 

Viele unserer heutigen Rituale – Weihnachten, Ostern, Geburtstagskerzen, bestimmte Gesten – sind Reste solcher kollektiven Handlungen, deren ursprünglicher Sinn längst vergessen ist. Wir wissen oft nicht mehr, warum wir Dinge tun, aber wir tun sie trotzdem. Und es ist mehr als ein „Das war schon immer so“. Diese Feste haben Kreuzzüge und Weltkriege überlebt. Vielleicht steckt mehr dahinter, als meets the eye.

 

Vielleicht verbirgt sich in den Tiefen der kollektiven und individuellen Psyche überhaupt viel mehr, than are dreamt of in your philosophy.

 

 

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