Es ist schon schräg, sich in meiner Situation die Memoiren vorzunehmen. Ich habe ein sehr schlechtes Gedächtnis. Meine ersten klaren längeren Erinnerungen beginnen bestenfalls irgendwo bei der Grundschule und selbst da gibt‘s große Lücken. Ich bin dazu auch noch gesichtsblind und gerate regelmäßig in die Situationen, wie… Heyyy Katja, na wie geht‘s? Wer zum Teufel bist du? Du kennst meinen Namen, und ich weiß nicht einmal, woher wir uns kennen.
Es gibt aber Momente, die gestochen klar sind. Das sind dann oft die schönsten oder die schrecklichsten.
Meine winzige Tochter zum ersten Mal in meinen Armen nach dem Notkaiserschnitt.
Mein fast 48-Stunden-Hochzeitstag: Von der Nacht davor, wo ich nach vierfacher Dosis Baldrian vor Aufregung nicht schlafen konnte, bis zum Augenblick, wo wir in unserer kleinen Suite gemeinsam eingekuschelt einschliefen, als es draußen schon wieder hell war. Und dann die erste Suschirunde am nächsten Tag als Mann und Frau.
Ein Erinnerungskaleidoskop aus unserer dreiwöchigen Norddeutschlandreise. Und der Moment, als die Dispo am Arsch war, und wir kein Geld mehr zum Tanken hatten. Und ich dann sagte, komm, das Universum findet einen Weg. Und wie mir dann tatsächlich plötzlich ein Kunststipendium bewilligt wurde und am nächsten Tag 5000 Euro auf das Konto reingeflattert sind. Mittlerweile steht neben meinem Arbeitstisch ein Schild: Spring und das Netz wird sich auftun. Diese 5000 waren mein erstes bewusstes Netz.
Wie meine Tochter und ich zum ersten Mal am Strand in Portugal sitzen. Es ist zu windig, und das Wasser ist viel zu kalt, aber wir graben unsere Füße in den angenehm warmen Sand.
Der Augenblick, an dem wir den Mann einer in den Bergen verunglückten Familienfreundin vor der Tür haben, der sagt, dass es sie nicht mehr gibt. Und ich als Kind in mein Zimmer renne und eine Kette fest zusammendrucke, die sie mir geschenkt hat. Sie war vierzig. Ich habe ihre Freiheitsliebe bewundert und ihre lockere Art. Wie sie im Auto immer lässig die Füße hochlegte. Wie sie in einem Schwung in einen eiskalten Bergfluss sprang. Ich wünschte insgeheim, meine Mutter wäre mehr wie sie. Ich wollte selber irgendwann wie sie werden. Ich habe nun ausgerechnet, dass mir dann nur noch 26 Jahre übrigblieben. Das war erschreckend und verwirrend. Sie hat die Freiheit teuer bezahlt. Ich konnte in dem Moment aber nicht mit meiner maximalistischen Teenie-Weltanschauung abschließend ausmachen, wie viel die Freiheit kosten sollte.
Und dann der Augenblick, an dem auf dem Gartentisch plötzlich eine Sterbeurkunde lag von meinem Opa, den ich nie kennengelernt habe. Und das nie mehr werde. Ich habe mich bis heute nicht getraut zu fragen, was da vorgefallen war, dass der Mensch für mich ausgelöscht wurde, noch Jahre bevor er starb.
Der Augenblick, wo ich zitternd in einem HIV-Testzentrum sitze. Und eine Woche später die Erleichterung, die regelrecht beflügelte.
Der Augenblick, wo mir gezeigt wird, in einem Ultraschallbild, dass meine Tochter eine Zyste im Gehirn hat. Die Wahrscheinlichkeit der Trisomie steigt aufgrund dieser winzigen Zyste von eins zu Million auf eins zu Zehntausend. Die Ärztin versucht mir noch zu erklären, dass die Zyste hochwahrscheinlich wieder verschwindet, dass die Wahrscheinlichkeit nach wie vor sehr gering ist, dass… Wissen Sie, vor ein paar Jahren hätte Ultraschall nicht genug Auflösung gehabt, um eine Einmillimeterzyste im Gehirn zu erkennen. Da haben alle ruhiger schlafen können. Allerdings. Schlafen kann ich die Nacht fast gar nicht. Am nächsten Tag mache ich einen Bluttest für fünfhundert Euro, die bei meinem Studi-Kontostand ein totaler Wahnsinn sind. Der soll dann die Trisomie mit 99,99% Wahrscheinlichkeit ausschließen. Im Nachhinein kann ich mit nüchternem Blick sagen, dass die 0,01% Wahrscheinlichkeit des Testfehlers die 1:10000 Wahrscheinlichkeit nach dem Ultraschall wahrscheinlich wettmachen würde. Im Moment aber waren die Tage bis zum Testergebnis wie im Nebel. Ich wusste, ich will das Kind bekommen, trotz allem. Trotzdem wurmte es mich. Schaffe ich das überhaupt, wenn da was sein sollte? Ich bin doch selber noch ein Kind mit meinen 21 Jahren.
Der Augenblick, wo mir klar wird, dass ich gerade in meine Theaterschule für einen Gespräch gerufen wurde, der wahrscheinlich mit dem Rausschmiss enden wird.
Und dann der gleiche Augenblick in leicht abgewandelter Form, wo ich ins Theater gerufen werde, eine Stunde vor Probenbeginn und auf dem Weg schon weiß, dass ich jetzt gekündigt werde.
Bei der zweiten Kündigung war meine Intuition schon so geschult, dass ich noch Tage davor, wo sich noch nichts abzeichnete, zu meinem Mann sagte. Also wenn sie mich jetzt rausschmeißen würden, wäre ich nicht traurig. Sie schmissen mich raus. Traurig wurde ich tatsächlich nicht. Denn in neun Jahren Theaterleben habe ich gelernt, wie viel Resilienz in mir steckt. Mit einer kleinen Unterstützung durch Unmengen an Nikotin, Koffein und Baldrian. Ich war so stolz darauf. Ich bin stark, nichts kann mich umhauen, ich werd‘s ihnen allen zeigen. Als eine junge Theaterregisseurin mit Migrationshintergrund. Als eine Nichtmuttersprachlerin, die mittlerweile nur noch auf Deutsch träumt und schreibt. In dieser Ich-zeig’s-ihnen-Haltung habe ich mich an den Strukturen abgekämpft. Auch mit siebzehn Arbeitsstunden am Tag und vier Stunden Schlaf. Bei dem Rauswurf aus der Theaterschule habe ich zwei Tage durchgeweint, bei der ersten Kündigung einen Tag, bei der zweiten Kündigung nickte ich und fragte, was mit der Gage ist. Da habe ich gemerkt, dass vor lauter mit Blut und Schweiß aufgebauten Resilienzmauer alle Gefühle gleich miteingemauert wurden.
Als mir mein Schauspieler dann ein Bild mit demoliertem Bühnenbild geschickt hat, aus dem der neue Regisseur nun verzweifelt versuchte etwas Neues zusammenzubasteln, lachte ich laut auf; sie haben ja gar keinen Plan. Dann habe ich erfahren, wie nach meiner Kündigung zwei menschlich und künstlerisch wunderbaren jungen Schauspielern gesagt wurde, sie hätten kein Talent.
Und dann kam so eine Wut in mir hoch. Auf diese Theaterleitung, die Kunst der anderen mit Füßen tritt. Auf die Strukturen, die solche Leitungen befördern. Auf diese große Staatstheatermaschine, die immer weiterläuft, die Menschen zermalmend. Ich habe mir geschworen nie wieder unter einer Leitung zu arbeiten, die ich nicht respektiere. Am besten ganz ohne Leitung. Das bleibt mir nun jedenfalls fest im Gedächtnis kleben. Und das ist auch gut so.
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