Das kann wahrscheinlich jede Generation von sich behaupten. Ich kenne zum Glück weder Krieg noch kalten Krieg am eigenen Leib; aber ich finde inzwischen echt, dass wir hier heute vor einem riesigen Haufen Scheiße stehen. Während die Klimakatastrophe anrollt, führen wir Kriege und werden für unser unüberlegtes hin- und herfliegen in der Welt mit der Pandemie bestraft. Während in China schon Lockdown herrscht, läuft es hierzulande noch monatelang ganz normal weiter. Wir sind wohl alle irgendwo Verdrängungsmeister. Und dann rennen wir drei Monate später auf einmal wie vom Hund gebissen und hamstern Desinfektionsmittel, Masken und Klopapier (letzteres verstehe ich bis heute nicht).
Ich will es mir gar nicht ausmalen, wie es dann mit dem Klima wird. Bei der Pandemie und den Kriegen haben wir es so lange verdrängt, bis die Tatsachen vor unserer Haustür standen. Wahrscheinlich wird es eine große Naturkatastrophe brauchen, so einen fetten Wake-Up-Call, bis wir agieren. Dann ist es die Frage, ob es sich noch ausgeht für alle, die nicht Elon Musk oder Jeff Bezos heißen. Das werden wir sehen; und hoffentlich wird es nicht das letzte sein, was wir sehen werden. Irgendwie habe ich da trotzdem eine unbegründete Zuversicht-Schrägstrich-Urvertrauen. Oder ist das schon wieder nur Verdrängung?
Während Corona hatte ich Panikattacken vor lauter Mutationen, Toten- und Krankenzahlen. Irgendwann wurde ich nach den ganzen Statistiken auf eine peverse Weise süchtig. Ich habe täglich stundenlang Nachrichten geschaut. Ich stellte mir Regensburg mit seinen (arg abgerundeten) 100.000 Einwohnern vor, wie wir alle auf einem riesigen abstrakten Platz zusammenstehen. Und dann habe ich die Menschengruppen in meinem Kopf, wie in diesen ganzen Fernsehprogrammen in verschiedenen Farben aufleuchten lassen, und in meiner inneren Metaverse versucht habe einzuschätzen, wie wahrscheinlich eine Ansteckung wäre.
Als wir im zweiten Lockdown bei der Familie in Portugal wohnten, sah ich Krankenwagenschlangen vor den Krankenhäusern. Triage, wie in Norditalien, als das Ganze gerade erst losging. Portugal wurde zum Virusvariantengebiet. Im portugiesischen Fernsehen lief soziale Werbung mit den jungen fitten Menschen, die im Krankenhaus an Corona erstickten, danach folgte der Aufruf: Mach dein Fenster auf und lüfte täglich.
Die haben einen Knall, dachte ich. Als würde DAS helfen. Und selbst wenn ich den Fernseher ausmachte, drehten sich die Bilder in meinem Kopf immer weiter. Wir trafen Freunde ab jetzt nur noch mit der FFP3-Maske; draußen; auf fünf Meter Abstand.
Und dann wurde mir klar, als ich für ein paar Tage mehr mit dem Geburtstag meiner Tochter als mit Coronazahlen beschäftigt war: Wenn ich den Fernseher ausmache, passiert… nichts. Ich lebe weiter. Die Welt dreht sich weiter. Also hörte ich auf, die Nachrichten zu schauen. Wenn's wirklich brennt, werden mir‘s die anderen schon sagen.
Wenn jeder so denken würde, hätten wir natürlich ein Problem. Andererseits, was bringt es, wenn ich jedes Mal nach so einer Nachricht innerlich zusammenbreche? Wie versorge ich dann zum Beispiel meine Tochter, die auf dieser Welt zur Zukunft beitragen soll? Erst die eigene Maske aufsetzen, dann den anderen helfen.
Damit bin ich ganz gut gefahren. Irgendwann schwand auch meine Angst, die Panikattacken lösten sich im aufgebauten Urvertrauen auf, und ich wurde auf die ganzen Absurditäten der Coronapolitik aufmerksam. Manchmal wurde es hier in der Region nämlich wirklich absurd. Ab einer Schwelle von so und so vielen Neu-Ansteckungen pro 100.000 Einwohner wurde ohne Rücksicht auf weitere Parameter die ganze Gastro und auch sonst der ganze Spaß komplett heruntergefahren, bis sich die Zahlen wieder besserten. Das galt dann immer pro Wohnort. So waren wir also an einem kleinen See in Bayern, wo man mit einem Touri-Boot zwischen vier Ortschaften im Kreis fahren und Hop-on-Hop-off-mäßig ein- und aussteigen konnte. Nur ein Ort war noch nicht genug Corona-verseucht, also fuhren diese vollgestopften Boote voller Touris und Einheimischen aus den Nachbarortschaften in dieses eine Ort, wo es noch möglich war, eine Halbe zu trinken, während deine Kinder am Spielplatz nebenan ihre Pommes verputzten. Wahrscheinlich drehten sich dann auch die Coronazahlen dort im Kreis.
Nun, bei den ganzen Absurditäten und auch bei den Dingen, die irgendwann gewaltig aufregten im späteren Verlauf der Pandemie (Ich habe kein Impf-Abo abgeschlossen; zwei davon fand ich mehr als genug, und musste mich dann doch noch überall schnelltesten ohne den Booster), ja, auch bei all diesen Dingen muss man trotzdem sagen, dass wir es alle am Anfang wirklich nicht besser wussten. Dass es für alle schockierend und erschreckend war. Irgendwann schlichen sich halt, wie bei jedem Leid, auch die ekelhaften Profiteure ein. Aber das ist schon ein anderes Thema. Ich schaute keine Nachrichten mehr und mir ging‘s prächtig.
Als Russland dann in die Ukraine einmarschierte, stand ich ein Tag vor meiner praktischen Führerscheinprüfung. In Bayern kostet so eine Prüfung mittlerweile so viel wie ein Gebrauchtwagen; also war es weniger die Frage des Stolzes, sie beim ersten Versuch zu bestehen (wobei dieser bei mir auch gerne mitmischt), sondern mehr auch die Frage des mittlerweile fast leeren Geldbeutels. Meine erste Reaktion in der Früh, als mein Mann mir im Vorbeigehen sagte, dass Russland einen Krieg anfing, und dass ich mir das unbedingt anschauen muss, war… naja. Ist doch alles nicht wahr. Was wollen sie denn alle von Russland jetzt? Kann doch nicht sein, dass Putin da jetzt wirklich Krieg anfängt. Ist bestimmt alles überzogen und überhaupt ein riesiges Missverständnis. Immer schön beschuldigen für die Clickbates und schöne, große und eindeutige Schlagzeilen. Außerdem habe ich eine Prüfung zu bestehen. Ich schnappte meine Jacke und ging zu der Fahrstunde. Mein Post-Ost-Fahrlehrer verlor kein Wort über den anrollenden Krieg. Nach eineinhalb Stunden parkte ich ein, und er wünschte mir alles Gute für morgen. Er schaute aber anders, als sonst, irgendwie tiefer, oder trauriger?
Abends rief ich meinen russischen Kumpel an, der in Berlin wohnt. Er sagte, er sei am Brandenburger Tor. Ich fragte, ob er Besuch hat und deswegen Sehenswürdigkeiten besucht. Er fragte mich fassungslos, ob ich Nachrichten schaue.
Ich tippte Russland Ukraine Krieg in die Google-Suche. Es fühlte sich an wie im freien Fall. Ich habe alle Bekannte und Freunde aus beiden Ländern angeschrieben. Ist jemand in Gefahr? Was ist da los? Ich scrollte und scrollte und konnte es nicht glauben. Die Realität hat mich eingeholt, wie eine Welle, die plötzlich alles runterriss. Natürlich habe ich die Dinge lange verdrängt. Nur auf einmal – so hat sich das angefühlt - auf einmal stellte ich fest, dass ich ausgerechnet aus dem Land komme, das jetzt ein Terrorstaat geworden ist, genauer gesagt sich über Jahre dazu entwickelt hatte. Nun stand ich da mit dem brüllenden Handy in der Hand, war wütend und hilflos. Habe mich dafür gehasst, dass ich nichts dagegen getan habe, dass ich die Krimannexion missverstanden habe, dass ich nicht wählen gegangen bin (auch wenn mein Wahlbrief gegen Putin wahrscheinlich vernichtet worden wäre). Dennoch habe ich nichts getan. Ich habe es zugelassen.
Ich habe wieder täglich stundenlang Nachrichten geschaut. Ich fühlte mich dafür verantwortlich. Ich schaute alles und überall. Russische Oppositionskanäle, europäisches Fernsehen, soziale Medien – die letzten gaben mir oft den Rest. Ich kanalisierte die Reste der Energie in die Protest- und Spendeaktionen, quetschte politisches Theater aus mir raus, gab immer wieder Interviews.
In vier Tagen sind es drei Jahre Krieg. Ich schaue nicht mehr stundenlang Nachrichten, aber gucke täglich kurz rein. Ich demonstriere nicht mehr, aber sammele bei der Gelegenheit Spenden. Die Welt heute hofft auf Trump, auf eine friedliche Lösung. Das ist der heutige Nachrichten-Tenor. Der ändert sich auch schleichend, der Tenor, je nachdem, wer gerade an der Macht ist. Aber auch diese Hoffnung, die immer wieder aufflackert, wird durch seine Äußerungen, die teils fassungslos machen, gedämpft. Ich frage mich oft, was er eigentlich damit bezwecken möchte. Wo da der doppelte Boden ist. Trump ist auf Geld, Egostreicheleien und den amerikanischen Einfluss auf die Welt aus. Ich glaube, wir sind uns alle einig, dass er kein Pazifist aus Überzeugung ist. Wenn aber ein großer Diplomat und Friedensstifter zu sein, sein Ego streichelt, und selbst von Abrüstung die Rede ist, ist es erstmal gar nicht so schlecht für die restliche Welt. Was mich eher beunruhigt, ist die Tatsache, dass man den Diktator für den Angriffskrieg mit Territorien belohnt. Das ist ein falscher Signal. Ich weiß nicht, wie gerecht dieser Frieden sein wird, wenn Ukraine aus den Verhandlungen ausgeschlossen wird. Ich weiß auch nicht, wie nachhaltig dieser Frieden sein wird, und ob nicht Waffenruhe ein treffenderes Wort ist für das, was da gerade verhandelt wird. Ich sehe auch die Gefahr, dass durch die erzwungenen Neuwahlen, die aufgrund des Kriegsrechts bisher nicht stattfinden konnten, ein pro-russischer Präsident in der Ukraine installiert wird. Ich sehe auch, wie gierig Trump auf die ukrainischen Naturressourcen schielt.
Dennoch ist jede Minute des Nicht-Blutvergießens es wert, ein vorläufiges Ziel zu sein. Eine bessere Lösung habe ich leider auch nicht im Petto. Auch wenn die Lösung, der wir uns nähern, alles andere als zufriedenstellend ist.
Wir haben natürlich bei jeder Demo gerufen, dass die Grenzen von 1991 gelten sollen und die ganzen russischen Streitkräfte aus der Ukraine jetzt sofort raus sollen. In einer idealen Welt wäre das auch die einzig richtige, moralisch korrekte Lösung. In einer idealen Welt sollten die Kriegsverbrecher bestraft werden, Putin sollte im Haag landen. In einer idealen Welt könnte man sogar darüber nachdenken, Russland zu dekolonisieren, ohne die Menschen dabei in Gefahr der Angriffe aus anderen Ländern zu bringen. Russland hat nicht übers Wasser sondern über den Landweg seine Kolonien ergattert, und sie nie zurückgegeben, deshalb ist dieses Land so riesig. Man könnte locker mehrere Länder draus machen. So eine demokratische asiatische Union nach europäischem Vorbild, statt eines riesigen Landes eine junge engagierte liberale Allianz, die politisch zusammenhält, mit dezentralisierter Macht. (Ob das aber gut geht, mit den Diktaturen als Nachbarn, kann ich nicht abschließend sagen; dazu fehlt mir der analytische Weitblick einer Politologin).
Das wäre in einer idealen Welt möglich. Die Realität ist aber leider eine andere, und etwas Pragmatismus (aber immer gepaart mit Wachsamkeit!) ist angebracht.
Was ich mit Sicherheit sagen kann: Es ist zu viel geschehen, dafür, dass man sich über den Frieden ohne Weiteres freuen könnte. Es sind zu viele Menschenleben für imperialistische Ambitionen und sogenannte Geopolitik geopfert worden. Es sind 11 Jahre Krieg zu viel.
Kommentar schreiben