Katja und ich hatten so gut wie nichts Gemeinsames bis auf den Namen und die überambitionierten Eltern, die selber nie Musik machten, uns aber in den Ferien zum Musik üben schickten.
Katjas Eltern ließen ihren Klavierfingern nicht mal zwei Wochen Pause. Meine Eltern waren da entspannter, erst in den dreimonatigen Sommerferien ging‘s bei der Oma im Dorf in eine Musikschule.
So lernte ich zwei Musikschulen kennen, die mich beide über die Ferien beheimatet haben.
Die eine "Musikschule" befand sich in Zermatter Grundschule, mitten in den Schweizer Bergen, wo wir jährlich Ski fuhren. Das war eigentlich nur das Musikzimmer mit einem schönen Holzklavier im zweiten Stock. Katja und ich gingen abends immer hin. Die Nacht legte sich über das kleine nette Zermatt und wir liefen die kleinen Straßen hoch bis zu hohen Glasstüren der Schule. Uns (beziehungsweise Katjas Eltern) wurde vertrauensvoll der Schlüssel von der Grundschule überlassen. Wir gingen also abends alleine hin und kämpften nach dem für Katja obligatorischen Musizieren mit kindlicher Neugierde weitere Räume als das erlaubte Klavierraum zu erkunden. Dennoch war für mich, selbst während meiner bereits anrollenden äußerst rebellischen Teeniezeit, die Dankbarkeit über dieses Vertrauen - zwei Kinder alleine in der riesigen hübsch ausgestatteten Schule mit Kinderspuren überall (Plakaten, Zeichnungen, halbvollen Garderoben, einem nett eingerichteten Minimuseum der Kinderkunst hinter der Glassscheibe im Erdgeschoss) - so groß, dass wir nach dem Üben tagtäglich fleißig die Türe zusperrten und in der Sternennacht wieder in unser Apartment liefen. Diese abendliche Schule im gedeckten Licht der Schrittmelder war irgendwie andächtig, wie eine Art Kindertempel, wo diese lebendige Kinderenergie auch spätabends noch in den Gängen nachhallte und uns ansteckte.
Die zweite "Musikschule", die auch keine war, lag ebenfalls in einer Grundschule im südrussischen Dorf Lasarevskoje nahe Sotschi, wo mein Vater herkommt und wo ich bei seiner Mama, meiner Oma, bis ich zehn wurde, jeden Sommer fast zwei Monate verbrachte. Dort grüßte uns in der Früh, bei der bereits warmen Sonne, eine bittersüß lächelnde Oma mit kurzem grau-weißen Haarschnitt ähnlich einer Wolke, die gute Seele des Hauses. Im Gärtchen nebenan krähten die Hähne. Diese Schule ist in meiner Erinnerung leuchtend hell geblieben. Ich spielte im kleinen, unfassbar hellen und warmen Raum. Überall hingen Kinderbilder und an die Kinder gerichteten Bilder, von denen es einerseits stark sowjetisch wehte, andererseits waren die meisten so universell menschlich, dass sie auch mich abholten. Ich erinnere mich an keines davon, aber an das Gefühl, dass ich von diesen zu mir bunt sprechenden, leuchtenden Wänden abgeholt werde.
So unterschiedlich wie Katja und ich waren, waren also auch diese Schulen. Und doch war da eines, was den beiden Schulen gemeinsam war. Was vielleicht auch Katja und mir gemeinsam war. Was auch den Menschen in diesen zwei voneinander weit geografisch und kulturell entlegenen Orten gemeinsam war, auch wenn von diesen Menschen sich die allermeisten nie im Leben begegnen würden. Die Spuren der Kinder. Und diese leuchtende Energie, die sich in die Klaviermusik einflocht.
Diese Spuren der beiden Schulen sitzen noch tief in mir drin. Die rufen mich zurück. Ich muss mal zurück. Auch wenn Sotschi und damit ein großer Stück meiner Kinderseele mir noch mindestens so lange versperrt bleiben wird, bis dort im Staatsfernsehen Der Schwanensee läuft.
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