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Prio 1

Wir sind seit elf Stunden unterwegs. Nach einem langen Flug zurück aus dem tollen Urlaub stehen wir nun in einer überfüllten Hamburger S-Bahn um von dort aus nach Regensburg zu gelangen, weil längere Flugstrecken billiger sind, was absurd ist und ein Thema an sich. 

 

Die S-Bahn also. 24 Minuten im überfüllten Zug. Meine siebenjährige Tochter tanzt eine Kinderversion des Pole-Dance an dem mittig platzierten Handhalter. Das hat sie im Fernsehen gesehen. Es lief plötzlich eine RTL-Aufnahme auf Youtube, wo ein zu Barbie stilisiertes kleines Mädchen sich bei einem Supertalent-Wettbewerb anmutig um die Stange drehte. Ich kam zu spät. So tanzt sie nun also. Und ich bewege mich irgendwo zwischen sie-warnen-den-anderen-Mitfahrenden-nicht-auf-die-Füße-zu-steigen, und so zu tun, als wäre es nicht mein Kind.

 

Schließlich streifen meine Augen über eine Stationenübersicht. Als ich versuche, im Kopf auszurechnen, wie lange wir noch fahren müssen, fällt mir auf, dass die nächsten 4 Stationen auf unserer Strecke als nicht rollstuhlgerecht markiert sind. Ich glaube meinen Augen nicht. 4 fucking Stationen. Wie soll das gehen? Ist es echt euer ernst, die Menschen, die dazwischen leben oder arbeiten, von so einer langen S-Bahn-Strecke auszuschließen? Oder sollen sie sich da gar nicht erst hintrauen? Chancengleichheit mit großem CHHH.

 

Ich blicke zu drei schweren Koffern und freue mich trotz dieses inneren Kopfschüttelns, dass Hamburger Hauptbahnhof einen Aufzug hat.

 

Nachdem ich schonmal bei meiner Rückreise von dem ersten großen Theaterregieengagement, der mit der vorzeitigen Kündigung endete (oder auf gut Deutsch: ich wurde rausgeschmissen), völlig fertig mit vier kurzen Umstiegen über acht Stunden nach Hause fuhr mit der Deutschen Bahn, und es bei einem Fünf-Minuten-Umstieg, aus dem dann drei Minuten wurden wegen der (Überraschung!) Zugverspätung, ohne Aufzug vor einer riesigen Treppe stand mit zwei Koffern, in denen sechs Wochen Arbeitsleben drin waren, und sie nacheinander die Treppe runterschleppen musste. Nun ja, beim zweiten Koffer krachte es. Ich bin dem Koffer hinterher die Treppe runtergeflogen und habe mir die Bänderzerrung an einem Fuß zugezogen. Der schlimmste Tag meines Lebens (wie es mir damals schien) wurde nun folgerichtig besiegelt. Vielleicht wollte mich aber mein Schicksal damals absichtlich ans Sofa fesseln, damit ich nicht wieder von meinen Problemen davonjogge. Hat nicht funktioniert, ich bin trotzdem überall rumgehumpelt und erst drei Jahre später aufgewacht und dem Theater das Rücken gekehrt.

 

Zurück zu den Stationen ohne Aufzug. Wir leben schon in einer verkehrten Welt irgendwie. Wir führen Diskussionen in die Richtung „Jeder Körper ist schön“ und haben in einer Großstadt vier Stationen nebeneinander ohne Aufzug. Nicht, dass er gerade nicht funktioniert. Es gibt ihn da gar nicht. Ist es nicht die höchste Alarmstufe und das erste, was man überhaupt tun müsste, wenn man über Inklusion spricht? Junge verzweifelte Eltern mit Kinderwägen (been there – seen that) würden übrigens auch noch davon profitieren, und mehr am gesellschaftlichen Leben teilhaben können.

 

Ich bin keine Politikerin, und möchte es vorläufig auch nicht werden. Aber es gibt da so ein Ding, und es heißt Fokus. Das kenne ich privat viel zu gut. Ich würde auch am liebsten jeden Tag an einem Buch schreiben, zwei Stunden Sport machen, 30 Minuten meditieren, zuhause lecker kochen, meine Tochter abwechelungsreich bespaßen, und dazu auch noch zum gleichen Teil mit meinem mehr-als-Brotjob zu unserem Familieneinkommen beitragen. Ach, und mein E-Piano schaut mich auch seit über zehn Jahren täglich vorwurfsvoll an. Ich würde so gerne all das tun, aber es geht nicht. Nicht, weil die Zeit nicht reichen würde. Irgednwann ist einfach geistig Schluss. Die Entscheidungs- und Motivationskraft werden aufgebraucht. Also muss ich schauen, dass mein Kind, mein Schreiben und die Arbeit Prio haben (was eh schon viel ist), und der Rest kommt ergänzend dazu, oder mal eben gar nicht. Trotzdem klappt es oft genug, dass ich mein Alltag abwechslungsreich gestalten kann. 

 

Dasselbe hier. Unser gesellschaftlicher Fokus ist begrenzt. Wir können nicht zig Diskussionen führen – ob es nun Body Positivity oder Body Neutrality werden soll. Wir sollen verdammt nochmal nach Hamburg und die Aufzüge bauen, wenn wir die Inklusion ernst meinen. Und nicht nur nach Hamburg, natürlich. Der muss nur gerade hinhalten.

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