Das größte Problem unseres Denkens ist, dass wir unsere Freiheit heute an Orten ausleben, die längst vordefiniert sind. Großkonzerne und Tech-Giganten haben Plattformen geschaffen, auf denen wir uns scheinbar individuell entfalten können; wir gestalten unsere Social-Media-Profile, vernetzen uns, posten, liken, kommentieren. Es fühlt sich nach Wahl an. Nach Handlungsspielraum. Nach Selbstbestimmung.
Doch wer tiefer hinsieht, wird feststellen: Noch nie waren wir so gelenkt wie heute, zumindest nicht in der Zeit vor dem Internet. Die Wege, auf denen sich unsere Kommunikation, unser Denken, unser gesellschaftliches Miteinander bewegen, sind erstaunlich stark vorgezeichnet. Die Plattformen spucken uns Formulare mit hübscher Mehrfachauswahl heraus und wir flicken daraus freudig unsere Individualität zusammen. Und wir merken es kaum, was wir da so tun. Denn alle machen mit. Und natürlich machen alle mit, weil dort eben alle sind.
Man kann sich dem entziehen. Ich habe meine Profile gelöscht, alle, die letzten davon ganz vorbildlich am ersten-ersten. Erst dachte ich: Es ist nur eine Illusion, dass man etwas verpasst. Ein halbes Jahr ist vergangen.
Und ich muss sagen...
Man verpasst nichts. Zumindest nichts Wesentliches. Was man gewinnt, ist Zeit. Klarheit. Ruhe. Man gewinnt den eigenen Gedankenraum zurück.
Im beruflichen Kontext ist der Verzicht nicht ganz so einfach. Wer mit weniger Vitamin B auf die Welt kam, muss sich irgendwo andocken. Und gerade seit Corona, mit dem Siegeszug von Homeoffice und digitalen Events, ist fast alles ins Netz gewandert.
Lebt man in einer kleineren Stadt, wird diese Abhängigkeit von der Digitalität noch spürbarer. Vernetzung passiert heute online. Die Möglichkeiten jenseits davon sind rar.
Und auf der einen Seite ist das wunderbar. Mein Mann und ich arbeiten beide mit den Unternehmen zusammen, die gar nicht in unserer Stadt sitzen. Diese Art von Arbeit funktioniert gut, wenn einmal ein echter Kontakt hergestellt ist. Das Problem liegt darin, dass die digitalen Wege, auf denen unsere Kommunikation sich bewegt, nicht neutral sind. Sie sind reguliert. Vorstrukturiert. Und diese Struktur prägt nicht nur den Zugang, sondern auch das Denken, das Verhalten, die Erwartungen.
Ich muss dann oft an Hannah Arendt denken. An ihre Unterscheidung zwischen Arbeiten, Herstellen – und dem eigentlichen Handeln.
Handeln hieß für sie: in echte Beziehung mit anderen Menschen treten, initiativ werden, unplanbare Dinge tun, und damit etwas echtes, politisches zum gemeinsamen Raum
beitragen. Das, was wir heute auf Social Media tun, ist aber kein Handeln. Es ist Herstellen. Und eventuell nicht mal das. Herstellen wäre laut Arendt (sehr vereinfacht
gesagt) Dinge erschaffen, die uns überdauern. Unsere Social Media Profile werden uns nur überdauern können, wenn es die Plattformen zulassen.
Wir stellen also unser Profil her, unser ideales Fremdbild. Wir stecken da Zeit ein, es muss ja, vor allem, wenn beruflich was auf dem Spiel steht. Das Vernetzen und das Storytelling ist überall und wird zu Pflicht. Leute planen sich täglich Zeiten ein, an denen sie auf LinkedIn oder sonst wo netzwerken. Arendt würde sogar sagen, dass es ab diesem Punkt Arbeit ist, weil es nicht echt und auch vergänglich ist und eben nicht währt und schnell wieder verfliegt, wenn man damit aufhört. (auch wenn Internet nichts vergisst, das wäre aber ein anderes Faß, das schließen wir mal schnell.)
Und doch glauben wir kollektiv daran, dass das, was auf Social Media passiert, ein Austausch sei. Diese Illusion ist erstaunlich mächtig. Denn wenn die Orte, an denen wir uns ständig Dinge mitteilen, bereits von Konzernen definiert und gelenkt sind, was heißt es dann für unsere Freiheit? Für unsere Möglichkeit, wirklich zu handeln?
Und als wäre das nicht genug: Fast 50 % des weltweiten Internetverkehrs stammen laut Studien von Bots. Meta hat sogar eigene KI-Profile hochgeladen, die echte Personen imitierten. Die Dead Internet Theory wirkt damit gar nicht mehr so aluhutmäßig.
Lass dir das auf der Zunge zergehen: Was wir für einen Dialog halten, ist oft nur Simulation. Über dich wird eine durch Lobbyarbeit feinjustierte und durch Algorithmen perfekt auf dich abgestimmte politische Agenda ergossen. Oder dir wird suggeriert, dass du dringend ein Produkt brauchst. Oder. Oder. Oder.
Vielleicht brauchen wir neue Orte. Oder den Mut, alte Räume wiederzubeleben.
Vielleicht beginnt politisches Handeln heute mit einem Austritt. Mit dem Loslassen der Verbundenheitsillusion.
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