Warum fiebern wir mit, obwohl wir es besser wissen? Warum ist selbst die schärfste Analyse gegen eine schnulzige Hollywood-Szene voller Pathos, mit dieser einen Melodie im richtigen Moment, einfach machtlos?
Es geht um den Schatten. Und zwar um den kollektiven Schatten.
Identifikation ist ein Reflex
Wenn wir Geschichten konsumieren, folgen wir einem tiefenpsychologischen Automatismus: Wir identifizieren uns.
Mit dem Helden. Mit dem Rebellen. Mit dem Opfer. Mit dem Antihelden.
Wir gehen mit. Wir leiden mit. Wir hoffen. Wir hassen.
Wir wollen, dass dieser gewinnt und dieser verliert. Obwohl wir wissen, dass das alles Fiktion ist.
Obwohl wir vielleicht intellektuell verstehen, dass Moral nicht so einfach ist.
Trotzdem fiebern wir mit.
Das ist kein Fehler. Es ist ein archetypisches Muster. Jung würde sagen: Der Archetyp agiert durch uns. Wir leben ihn, nicht umgekehrt. Die kulturellen Formen, die uns bewegen, sind voller
kollektiver Bilder: der Held, der Märtyrer, der Verräter, die göttliche Mutter, der trickreiche Narr, das dunkle Spiegelbild.
Diese Muster sind älter als jeder Einzelne von uns und stärker als unser Wille.
Verführung durch Form
Aber das Problem ist nicht nur der Inhalt. Es ist die Form selbst, die diese Muster trägt.
Ein epischer Soundtrack. Eine Großaufnahme in Zeitlupe. Ein tragischer Monolog.
Die Form erzeugt eine emotionale Ordnung, in der der Inhalt beinahe beliebig wird.
Wir fühlen, bevor wir denken. Wir fiebern mit noch bevor wir wissen, ob wir das überhaupt wollen.
C. G. Jung verstand Archetypen nicht einfach als kulturell geformte Muster, sondern als universelle, kollektive Strukturbedingungen des psychischen, größtenteils un- oder unterbewussten Erlebens, ähnlich einem apriorischen Rahmen, der nicht durch Erfahrung entsteht, sondern Erfahrung überhaupt erst ermöglicht. Die Archetypen sind also weder erlernt, noch kulturell tradiert oder epigenetisch entwickelt, sondern ursprünglich vorhanden. Jung entwickelte diese Theorie aus der empirischen Arbeit mit Träumen, Mythen und Symbolen, ging also induktiv vor, und kam doch zu einer als notwendig gesehenen Struktur, die allen Menschen gemeinsam sein soll. Archetypen wie der Held oder der Schatten sind für ihn keine Inhalte, sondern formgebende Prinzipien, die unbewusst wirken und das Denken, Fühlen und Handeln ordnen, lange bevor wir ihnen Bedeutung geben.
Und genau hier wird es gefährlich:
Denn was, wenn das Mitfiebern selbst Teil des Problems ist?
Was, wenn wir unbewusst immer wieder denselben Schattenfiguren folgen?
Diese Form von Identifikation, also das Andocken an die Archetypen, formt unser Empfinden von Gut und Böse, von Heldentum, von Gerechtigkeit. Wenn ich mir etwa Herr der Ringe heute, in Kriegszeiten, noch einmal anschaue, zieht sich in mir alles zusammen. Die epische Wucht des Films, die musikalische Überhöhung, die Lichtverhältnisse – alles ordnet sich einem mythischen Heldennarrativ unter, das kaum noch hinterfragt werden kann. Die „Guten“ sind mutig, schön, nahezu unverwundbar; auf dem Schlachtfeld sterben fast nur Nebendarsteller. Die „Bösen“ hingegen sind entmenschlicht, verzerrt, zu Schattenwesen gemacht. Sie verlieren immer, auch wenn es kurz zwecks Spannung kippt, am Ende verlieren sie. Sie haben keine Geschichte, kein Innenleben, keine Widersprüche.
Diese Art der Darstellung ist nicht einfach Fiktion, sie ist emotionale Konditionierung. Wer solche Narrative konsumiert, besonders im großen Stil, mit starker Musik und visueller Fülle, übernimmt oft unbewusst das Muster: Wir hier, die Guten. Dort, das Dunkle, das Böse. Es ist ein Muster, das sich leicht übertragen lässt: auf reale Feindbilder, auf politische Propaganda, auf Kriegsrhetorik. Und es ist immer wieder wirksam. Gerade weil es so schön in Szene gesetzt ist.
Zudem wird der Krieg als ein Abenteuer inszeniert, in dem die Guten immer gewinnen. Gerechtigkeit immer siegt. Das ist nicht immer der Fall. Leider. Selbst wenn wir auf der richtigen Seite der Geschichte stehen oder das zumindest glauben, ist der Krieg kein Abenteuer. Es ist verdammt nochmal eine Schlacht. Ein Menschenleiden. Es darf nicht romantisiert werden. Es dürfen keine falschen Erwartungen an tapfere Heldentaten geweckt werden. Das ist brandgefährlich, vor allem bei jüngeren Zuschauern.
Brecht wusste es. Und (SPOILER!) scheiterte daran.
Bertolt Brecht versuchte, diesen Automatismus zu durchbrechen.
Sein berühmter Verfremdungseffekt sollte die Identifikation stören.
Das Publikum sollte nicht mehr mitfühlen, sondern mitdenken.
Der Schauspieler sollte zeigen, dass er spielt, statt in der Figur zu verschwinden. Dazu kamen noch viele andere Ideen, wie z. B. das Ende der Geschichte gleich zu Beginn zu spoilern, um die Spannung rauszunehmen, damit das Publikum dann darüber mitdenkt, wie es sich dahin entwickelt hat, statt sich zu fragen, wie es wohl weitergeht. Oder offene Kulissen mit roten Vorhängen als Teil des Bühnenbilds, damit bloß keiner vergisst, dass wir hier die ganze Zeit im Theater sitzen.
Das Vorhaben war alles in allem äußerst spannend. Aber: Die Form blieb Theater.
Dann fühlten wir halt mit den Schauspieler-Ichs hinter den Figuren mit, auch wenn es nicht intendiert war, einfach weil jeder Darsteller, sobald er Bühne betritt, automatisch zu einer Figur, seinem sogenannten Schauspieler-Ich wird, ob er's will oder nicht.
Und wir suchen so sehnsüchtig nach einem Mitfieberlackmusblatt, da hilft auch kein Vorhang.
Der Schatten bleibt.
Der Archetyp lässt sich nicht verbannen. Nur erkennen.
Wir leben eben in einer Kultur, die auf Identifikation aufgebaut ist. Und diese wird fast schon autopoetisch immer weiter befeuert. Streaming-Algorithmen, Marketingkampagnen, politische Rhetorik, TikTok-Reels, das alles funktioniert heute über Narrative.
Über das passende Storytelling.
Über das Gefühl: Ja, das bin ich.
Das verstehe ich.
Das berührt mich.
Und jedes dieser Narrative speist sich aus den Archetypen.
Das bedeutet: Wir leben nicht einfach in einer Kultur der Geschichten, wir leben in einer Kultur des kollektiven Wiederholens. Die ewigen Urbilder: Held, Mutter, Opfer, Racheengel, Erlöser, Verräter, laufen immer weiter. Nur schneller. Bunter. Kürzer. Oberflächlicher.
Gibt es Auswege?
Einige wenige surrealistische Filme, einige wenige Installationen, einige wenige Formen des immersiven Theaters, bestimmte Literatur.
Sie verweigern sich bewusst der einfachen Identifikation.
Sie lassen Fragen offen. Sie zeigen Schmerz ohne Erlösung.
Sie geben dem Schatten Raum, ohne ihn zu glorifizieren.
Aber diese Werke erreichen selten den Massenmarkt.
Denn der Massenmarkt verlangt Kohärenz.
Eine klare Hauptfigur. Eine Katharsis. Einen erzählbaren Sinn.
Den Schatten sichtbar machen, ohne ihn zu vertreiben.
Vielleicht können wir lernen, Geschichten zu erzählen, in denen die Identifikationsmöglichkeit durchsichtig bleibt. In denen wir mitfiebern und zugleich spüren, dass etwas nicht stimmt. In denen wir emotional eintauchen und zugleich etwas in uns fragt: Warum berührt mich das gerade so sehr? Was ist mein Anteil daran?
Und wenn es nicht funktioniert?
Dann wissen wir es wenigstens.
Vielleicht gibt es auch gar keine Lösung.
Vielleicht wird Kultur immer mit dem Schatten spielen, weil er dazugehört.
Aber wenn wir ihn sehen und benennen können, ist das schon mal ein Anfang.