· 

Der Schatten im Bild. Warum wir mitfiebern – und nicht anders können

Es gibt eine Grenze, die immer wieder durchbrochen wird – und doch bleibt sie bestehen. Die Grenze zwischen dem, was wir sehen, und dem, was wir wissen. Zwischen dem, was uns unterhält, und dem, was uns verwandelt. Zwischen der ästhetischen Form und dem ethischen Inhalt. Zwischen der Figur – und dem Archetyp.

 

Dieser Text ist ein Versuch, das Unauflösbare zu umkreisen: Warum wir mitfiebern, obwohl wir es besser wissen. Warum wir uns identifizieren, obwohl wir es nicht sollten. Warum selbst die schärfste Analyse gegen eine schnulzige Hollywood-Szene voller Pathos, mit dieser einen Melodie im richtigen Moment oder einem gelungenen Filmschnitt oft machtlos ist.

 

Es geht um den Schatten. Und zwar um den kulturellen, kollektiven Schatten.

 

Identifikation ist ein Reflex

 

Wenn wir Geschichten konsumieren, folgen wir einem tiefenpsychologischen Automatismus: Wir identifizieren uns.
Mit dem Helden. Mit dem Rebellen. Mit dem Opfer. Mit dem Antihelden.


Wir gehen mit. Wir leiden mit. Wir hoffen. Wir hassen.

Wir wollen, dass dieser gewinnt und dieser verliert. Obwohl wir wissen, dass das alles Fiktion ist.

Obwohl wir vielleicht intellektuell verstehen, dass Moral nicht so einfach ist.
Trotzdem fiebern wir mit.

 

Das ist kein Fehler. Es ist ein archetypisches Muster. Jung würde sagen: Der Archetyp agiert durch uns. Wir leben ihn, nicht umgekehrt. Die kulturellen Formen, die uns bewegen, sind voller kollektiver Bilder: der Held, der Märtyrer, der Verräter, die göttliche Mutter, der trickreiche Narr, das dunkle Spiegelbild.
Diese Muster sind älter als jeder Einzelne von uns und stärker als unser Wille.

 

Verführung durch Form

 

Aber das Problem ist nicht nur der Inhalt. Es ist die Form selbst, die diese Muster trägt.
Ein epischer Soundtrack. Eine Großaufnahme in Zeitlupe. Ein tragischer Monolog.
Die Form erzeugt eine emotionale Ordnung, in der der Inhalt beinahe beliebig wird.
Wir fühlen, bevor wir denken. Wir fiebern mit noch bevor wir wissen, ob wir das überhaupt wollen.

 

Und genau hier wird es gefährlich:
Denn was, wenn das Mitfiebern selbst Teil des Problems ist?
Was, wenn wir unbewusst immer wieder denselben Schattenfiguren folgen? 


Diese Form von Identifikation formt unser Empfinden von Gut und Böse, von Heldentum, von Gerechtigkeit. Wenn ich mir etwa Herr der Ringe heute, in Kriegszeiten, noch einmal anschaue, zieht sich in mir alles zusammen. Die epische Wucht des Films, die musikalische Überhöhung, die Lichtverhältnisse – alles ordnet sich einem mythischen Heldennarrativ unter, das kaum noch hinterfragt werden kann. Die „Guten“ sind mutig, schön, nahezu unverwundbar; auf dem Schlachtfeld sterben fast nur Nebendarsteller. Die „Bösen“ hingegen sind entmenschlicht, verzerrt, zu Schattenwesen gemacht. Sie verlieren immer, auch wenn es kurz zwecks Spannung kippt, am Ende verlieren sie. Sie haben keine Geschichte, kein Innenleben, keine Widersprüche. 


Diese Art der Darstellung ist nicht einfach Fiktion, sie ist emotionale Konditionierung. Wer solche Narrative konsumiert, besonders im großen Stil, mit starker Musik und visueller Fülle, übernimmt oft unbewusst das Muster: Wir hier, die Guten. Dort, das Dunkle, das Böse. Es ist ein Muster, das sich leicht übertragen lässt: auf reale Feindbilder, auf politische Propaganda, auf Kriegsrhetorik. Und es ist immer wieder wirksam. Gerade weil es so schön in Szene gesetzt ist. 


Zudem wird der Krieg als ein Abenteuer inszeniert, in dem die Guten immer gewinnen. Gerechtigkeit immer siegt. Das ist nicht immer der Fall. Leider. Selbst wenn wir auf der richtigen Seite der Geschichte stehen oder das zumindest glauben, ist der Krieg kein Abenteuer. Es ist verdammt nochmal eine Schlacht. Ein Menschenleiden. Es darf nicht romantisiert werden. Es dürfen keine falschen Erwartungen an tapfere Heldentaten geweckt werden. Das ist brandgefährlich, vor allem bei jüngeren Zuschauern.


 

Brecht wusste es. Und scheiterte daran.

 

Bertolt Brecht versuchte, diesen Automatismus zu durchbrechen.
Sein berühmter Verfremdungseffekt sollte die Identifikation stören.
Das Publikum sollte nicht mehr „mitfühlen“, sondern „nachdenken“.

Der Schauspieler sollte „zeigen, dass er spielt“, statt in der Figur zu verschwinden. Dazu noch viele andere Ideen inklusive offener Kulissen mit tollen Vorhängen.
Aber: Die Form blieb Theater. Dann fühlten wir halt mit den Schauspieler-Ichs hinter den Figuren mit, auch wenn es nicht intendiert war, einfach weil jeder Darsteller, sobald er Bühne betritt, automatisch zu einer Figur wird. Und wir suchen so sehnsüchtig nach Mitfieberlackmusblatt, da hilft auch kein Vorhang. Der Schatten blieb.

 

Der Archetyp lässt sich nicht verbannen. Nur erkennen.

 

Wir leben eben in einer Kultur, die auf Identifikation aufgebaut ist. Und diese wird fast schon autopoetisch immer weiter befeuert. Streaming-Algorithmen, Marketingkampagnen, politische Rhetorik, TikTok-Reels, das alles funktioniert heute über Narrative. Über das passende Storytelling. Über das Gefühl: „Ja, das bin ich“, „Das verstehe ich“, „Das berührt mich“.
Und jedes dieser Narrative speist sich aus den Archetypen. Das bedeutet: Wir leben nicht einfach in einer Kultur der Geschichten, wir leben in einer Kultur des kollektiven Wiederholens.
Die alten Bilder: Held, Mutter, Opfer, Racheengel, Erlöser, Verräter, laufen weiter. Nur schneller. Bunter. Und kürzer. 

 

 

Gibt es Auswege? Vielleicht. Aber keine einfachen.

 

Einige surrealistische Filme, einige Installationen, einige Formen des immersiven Theaters, bestimmte Literatur, sie verweigern sich bewusst der einfachen Identifikation.
Sie lassen Fragen offen. Sie zeigen Schmerz ohne Erlösung. 
Sie geben dem Schatten Raum, ohne ihn zu glorifizieren.

Aber diese Werke erreichen selten den Massenmarkt.
Denn der Massenmarkt verlangt Kohärenz.
Eine klare Hauptfigur. Eine Katharsis. Einen erzählbaren Sinn.

Die Frage ist also: Wie kann man beides verbinden?

 

Vielleicht ist die Lösung: Den Schatten sichtbar machen, ohne ihn zu vertreiben.

 

Vielleicht können wir lernen, Geschichten zu erzählen, in denen die Identifikation nicht gelöscht, aber durchsichtig wird. In denen wir mitfiebern und zugleich spüren, dass etwas nicht stimmt.


In denen wir emotional eintauchen und zugleich etwas in uns fragt: Warum berührt mich das gerade so sehr? Was ist mein Anteil daran?

 

Und wenn es nicht funktioniert? Dann wissen wir es wenigstens.

 

Vielleicht gibt es auch gar keine Lösung.
Vielleicht wird Kultur immer mit dem Schatten spielen, weil er dazugehört.
Aber wenn wir ihn sehen und benennen, ist das schon ein Anfang.